20.10.2025, Hilal Akdeniz:
Der Tod von Fethullah Gülen markiert eine Wegscheide für die Auseinandersetzung mit seinem intellektuellen Erbe. Kaum ein anderer muslimischer Denker der Gegenwart hat Bildung so stark in den Mittelpunkt seiner gesellschaftlichen Vision gestellt. Gülen verstand Bildung als Voraussetzung für Gerechtigkeit und als Weg, um soziale Ungleichheit zu überwinden. In Deutschland, wo Fragen nach Teilhabe, Integration und Chancengleichheit zentrale politische und gesellschaftliche Themen sind, lohnt ein Blick auf die von Gülen inspirierten Konzepte – sowohl auf ihre Potenziale als auch auf ihre Grenzen.
Bildung als moralische und soziale Pflicht
Ein berühmtes Zitat, das auf Ibn Haldun zurückgeführt wird, lautet: „Coğrafya kaderdir“ – „Geographie ist Schicksal!“ Der individuelle Lebensverlauf ist dabei abhängig von einer Vielzahl von Faktoren, darunter der Zeitpunkt der Geburt, der geographische Standort sowie die familiären und genetischen Einflüsse. Die globale Verteilung von Bildung ist durch signifikante Ungleichheiten charakterisiert.
Einige Regionen, wie Sub-Sahara-Afrika und Südasien, weisen niedrigere Alphabetisierungsraten und höhere Zahlen an Schulverweigerern auf. Andere Regionen, wie die EU oder Russland, zeigen höhere Bildungsniveaus in Form von Hochschulabschlüssen und Akademikerquoten. Globale Unterschiede bestehen auch in Bezug auf die Investitionen in Bildung; ärmere Länder sind oft auf externe Hilfe angewiesen, um ihre Bildungsziele zu erreichen. Fethullah Gülen erkannte frühzeitig die bestehende Chancenungleichheit beim Zugang zu Bildung und Teilhabe. Er bezeichnete Bildung als „das beste Mittel zur Bekämpfung der zahlreichen Probleme, mit denen die Gesellschaft und die Menschheit konfrontiert sind“ (fgulen.com). In dieser Formulierung manifestiert sich ein pädagogisches Ideal, das über den rein pädagogischen Kontext hinausreicht. Bildung wird als entscheidender Schlüssel verstanden, um soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Stabilität zu fördern.
Der von ihm geprägte Hizmet-Gedanke („Dienst an der Gesellschaft“) fußt auf der Prämisse, dass jedes Individuum eine Verantwortung trägt, die eigenen Kompetenzen zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen. Bildung wird als Instrument betrachtet, das Menschen dazu befähigt, Verantwortung zu übernehmen, und zwar unabhängig von soziokulturellen Faktoren wie sozialer Herkunft, Geschlecht oder Religion. Damit wird Chancengleichheit nicht nur als politisches Ziel, sondern als religiös-sittliche Aufgabe verstanden. „Die Bildung stellt den Schlüssel zu gegenseitiger Verständigung, Integration und gesellschaftlicher Teilhabe dar. Der Fokus liegt auf der Förderung von Chancengerechtigkeit und qualifizierter Bildung.
Umsetzung in Deutschland – Bildung als Brücke
Die Bewegung, deren Fokus auf der Förderung von körperlicher Aktivität liegt, ist in Deutschland seit den 1990er-Jahren aktiv. In Anlehnung an Gülens Lehren erfolgte die Gründung von Vereinen, Nachhilfezentren und Schulen, deren Fokus auf der Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund lag. Die Stiftung Dialog und Bildung fasst das vorliegende Engagement wie folgt zusammen: „Seit über 30 Jahren engagieren sich türkeistämmige Menschen in Deutschland für Chancengleichheit, Bildung, gesellschaftliche Partizipation und Aufstieg“ (Verantwortung & Engagement, sdub.de). In der empirischen Untersuchung zeigt sich, dass die Gülen-Bewegung den Versuch unternimmt, strukturelle Bildungsbarrieren zu überwinden, insbesondere für Jugendliche aus Einwandererfamilien. Private Bildungsinitiativen, Sprachförderprogramme und interkulturelle Dialogveranstaltungen verfolgen das Ziel, die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken. Gleichzeitig ist festzustellen, dass diese Arbeit gewisse Ambivalenzen aufweist. Einerseits werden die Hizmet-Einrichtungen staatlich anerkannt und erfüllen in vielen Fällen hohe pädagogische Standards. Andererseits werden sie auch einer kritischen Beobachtung unterzogen, beispielsweise im Hinblick auf ihre inhaltliche Unabhängigkeit oder mögliche religiöse Einflüsse. Diese Spannung verweist auf ein Kernproblem des Begriffs Chancengleichheit: Es bedarf der Klärung, welche Instanz die Bedingungen definiert, unter denen von „gleichen Chancen“ die Rede sein kann.
Gülen selbst interpretierte Gleichheit nicht als Uniformität, sondern als gerechte Ermöglichung. In einem Interview führte er aus: „Ich habe stets die Notwendigkeit gespürt, Menschen zu befähigen […] das Potenzial eines jeden Menschen zu entdecken, ihnen die Chance zu geben, ihre Talente aufblühen zu lassen“ (sdub.de, Interview mit Fethullah Gülen, 2014).
Gleichheit als ethisches und spirituelles Prinzip
Gülens Verständnis von Gleichheit erstreckt sich über den Bereich der Bildung hinaus. Er betont, dass „soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit Voraussetzungen für die Gleichberechtigung der Menschen“ seien (sdub.de, Grundwerte der Hizmet-Bewegung). Er verbindet demnach Gleichheit mit Gerechtigkeit und Menschenwürde. Diese Kategorien spielen sowohl in der islamischen Theologie als auch in modernen Demokratien eine zentrale Rolle.
Die von ihm entwickelte Idee der „moralischen Gleichheit“ fußt auf der Prämisse, dass alle Menschen als Geschöpfe Gottes gleichwertig anzusehen sind. Er gelangt zu dem Schluss, dass es unzulässig ist, eine Person aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer Religion zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Gemäß der Stellungnahme der Stiftung Dialog und Bildung schließt Fethullah Gülen staatliche Gewalt für Religionszwecke kategorisch aus und betont, dass eine Ausübung der Religion in Einklang mit den universellen Werten und den Menschenrechten zu stehen habe. Gülens Denken bietet Anknüpfungspunkte für eine religionsübergreifende Ethik der Chancengleichheit. Seine Betonung von Bildung, sozialer Gerechtigkeit und individueller Verantwortung steht in Einklang mit den Grundprinzipien der demokratischen Gesellschaft. Gleichzeitig ist sein Ansatz in einer religiösen Weltanschauung verankert, die spezifische kulturelle Prämissen mit sich bringt.
In Deutschland eröffnet die Bewegung Räume für Bildung und Dialog, die zahlreichen Jugendlichen Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe verschaffen. In einem Essay zur Demokratie formulierte Fethullah Gülen die Ansicht, dass die Aufrechterhaltung von Intelligenz, Urteilsvermögen, Gerechtigkeit, Gleichheit und Recht an einem Ort, an dem Probleme allein auf der Basis von Macht gelöst werden, unmöglich sei (Gülen und Demokratie, SDuB-Magazin 1/2014).
Eine Analyse von Gülens Lebenswerk ergibt, dass sein Beitrag zur Idee der Chancengleichheit nicht in einem theoretischen System, sondern in einem praktischen Impuls liegt – Bildung als moralischer Dienst an der Menschheit. In Deutschland, wo Fragen nach Integration, sozialer Mobilität und Gleichstellung weiterhin von aktueller Relevanz sind, bleibt dieser Impuls von signifikanter Bedeutung.
Gemäß Gülens Verständnis impliziert Chancengleichheit die Gewährleistung gleicher Möglichkeiten für alle Menschen, ihre Begabungen zu entfalten, unabhängig von Faktoren wie Religion, Herkunft oder Geschlecht. Die Verwirklichung dieses Anspruchs ist dabei weniger abhängig von theologischen Lehrsätzen, sondern vielmehr von konkretem gesellschaftlichem Handeln. In diesem Kontext manifestiert sich die anhaltende Herausforderung, die möglicherweise als das Vermächtnis Fethullah Gülens interpretiert werden kann.
Gedenken an Fethullah Gülen
Podcast 1 zum Gedenken an Fethullah Gülen
Hizmet-Stimmen – Folge 1