20.10.2025, Ercan Karakoyun:
Im Denken Fethullah Gülens ist soziale Teilhabe Ausdruck einer inneren Verpflichtung, nicht einer äußeren Struktur. Sie erwächst aus dem mesuliyet duygusu – dem tiefen Verantwortungsgefühl gegenüber Gott, dem Menschen und der Gemeinschaft. Dieses Gefühl, so schreibt Gülen, bedeutet, „ohne eigennützige Erwägung, allein aus Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein heraus, für das Wohl von Land, Nation und Religion Lasten zu tragen und der Jugend dieses Verantwortungsgefühl zu vermitteln“. In dieser Haltung liegt die moralische Grundlage einer ganzen Zivilisation: Dienst, der nicht sucht, sondern gibt.
Gülen sieht im Verantwortungsbewusstsein die Brücke zwischen persönlicher Frömmigkeit und gesellschaftlicher Wirksamkeit. Er fordert dazu auf, Spiritualität nicht im Rückzug, sondern in der Tat zu verwirklichen: „Verrichtet das Gebet, reinigt und klärt euer Inneres, und geht dann unter dem Gefühl der Verantwortung in die Welt hinaus, um von Gottes Gnaden in dieser und der jenseitigen Welt zu profitieren.“ So wird das Gebet – der Inbegriff vertikaler Beziehung zu Gott – zur Quelle horizontaler Verantwortung gegenüber den Menschen.
Dieses Verständnis verbindet Gülens Konzept von Hizmet mit einem umfassenden Begriff gesellschaftlicher Teilhabe. Sie ist nicht politisch im engeren Sinn, sondern ethisch – eine moralische Bewegung, die aus der Spiritualität des Alltags entsteht. Wie Gülen in einem anderen Zusammenhang betont: „Wir dürfen nicht vergessen, dass auch das richtige Lesen der göttlichen Gesetze in der Schöpfung, das Beachten der Ursachen und das Erfüllen gesellschaftlicher Verantwortungen zur Frömmigkeit gehört.“ Damit integriert er die Idee der toplumsal sorumluluk – der gesellschaftlichen Verantwortung – unmittelbar in das religiöse Leben selbst.
In dieser Perspektive wird Hizmet zu einer Schule der moralischen Mündigkeit. Der Dienende steht nicht außerhalb der Welt, sondern mitten in ihr, bewegt von der Überzeugung, dass jeder Akt des Guten Teil des göttlichen Plans ist. Bildung, Dialog und soziale Fürsorge sind keine Instrumente, sondern Ausdrucksformen dieses Verantwortungsgefühls. Wer Wissen teilt, wer Brücken baut, wer Leid lindert, der erfüllt zugleich eine geistige Pflicht.
Hizmet zeigt damit, dass Spiritualität keine private Innerlichkeit sein muss, sondern eine Kraft der gesellschaftlichen Erneuerung. Gülens Ideal des Dienens zielt nicht auf Macht, sondern auf Wirkung durch Güte. „Der wahre Dienst“, so schreibt er, „besteht darin, die Herzen zu erreichen, nicht die Macht zu erlangen.“ In einer Welt, in der das Öffentliche oft vom Lauten und Besitzergreifenden bestimmt ist, stellt Hizmet eine stille, aber wirksame Alternative dar: Engagement, das aus Reinheit der Absicht geboren ist.
Soziale Teilhabe im Sinne Gülens ist daher nicht das Streben nach Einfluss, sondern nach Verantwortung. Wer sich der Gesellschaft zuwendet, erfüllt eine spirituelle Pflicht. Wer Wissen weitergibt, praktiziert Glauben. Und wer mit dem Bewusstsein dient, dass alles Gute letztlich auf Gott verweist, der schafft jene Form von Teilhabe, die über Strukturen hinausgeht – eine Teilhabe des Herzens.