Interview der Stiftung mit Fethullah Gülen

Interview der Stiftung Dialog und Bildung mit Fethullah Gülen, Mai 2014 

 Stiftung Dialog und Bildung: Sehr geehrter Herr Gülen, wie würden Sie Ihre Sicht auf die Demokratie und den Säkularismus beschreiben?

Ich habe stets die Notwendigkeit gespürt, Menschen zu befähigen, die der Gesellschaft dienen und mit hohen menschlichen Werten wie Liebe, Toleranz, Mitgefühl, Verantwortungs- bewusstsein ausgestattet sind, und habe dementsprechend versucht, meinen eigenen Beitrag dazu zu leisten. Dies können Sie auch als ein Streben betrachten, das Potenzial eines jeden Menschen zu entdecken, ihnen die Chance geben, ihre Talente aufblühen zu lassen, ihnen den Weg zum guten Menschen aufzuzeigen und somit das Wohlgefallen Gottes zu erhalten.
Der Säkularismus ist ein Thema, das mit dem Staat zu tun hat. Staaten können säkular bzw. laizistisch sein, dies bedeutet jedoch nicht, dass der Staat das Recht hat, seine Bürger dazu zu zwingen, säkular zu sein. Ein säkularer Staat lässt gegenüber jeder Religion bzw. Weltanschauung denselben Abstand. Da der Säkularismus heutzutage unterschiedliche Erscheinungsformen hat, weiß man manchmal nicht genau, was mit dem Begriff gemeint ist. Ein gläubiger Mensch wird nicht akzeptieren, dass der Staat den Individuen unter dem Deckmantel des Säkularismus eine bestimmte Lebensweise aufdrückt. So wie das Aufdrücken einer religiösen Lebensweise gegen den Geist der Religion per se ist, verstößt das Oktroyieren einer areligiösen Lebensweise gegen die Menschen- rechte, die Demokratie und die Prinzipien des Säkularismus.




Ich habe mehrmals betont, dass das Verständnis eines säkularen Staates, der den Gläubigen das Recht und die Freiheit auf freie Auslebung ihrer Religion gewährt, nicht im Widerspruch zu den staatsrechtlichen Prinzipien des Islam steht und man nicht nach neuen Staatsmodellen zu suchen braucht. Auch dem Humanismus liegen der Respekt vor dem Menschen und der Schutz seiner Grundrechte und -freiheiten zugrunde, welche ebenfalls dem Menschenverständnis des Islam ähneln, wenn auch nicht hundertprozentig sich angleichen. Es ist unser grundlegendes Prinzip, den Menschen, unabhängig von seiner Religion, als Menschen zu akzeptieren und wertzuschätzen.
Außerdem habe ich schon oft gesagt, dass es im Allgemeinen für die ganze Welt, im Speziellen für die Türkei, kein Zurück mehr von der Demokratie gibt. Ich betonte, dass die Demokratie, also das Partizipieren des Volkes an der Verwaltung, nicht im Widerspruch zu islamischen Prinzipien steht, ganz im Gegenteil sogar viel besser geeignet ist als die Monarchie, Oligarchie oder Theokratie. Besonders in den 1990er Jahren wurde ich für das Aussprechen dieser Gedanken von radikalen Kreisen in der Türkei stark kritisiert.

SDuB: Wie stehen Sie zur Religionsfreiheit? Was passiert, wenn sich ein Mensch in freiem Willen vom Glauben abkehrt?

In Bezug auf die Urteile der islamischen Rechtsgelehrten in der Vergangenheit sollte man diese in theologische (also das Glaubensbekenntnis betreffende) und politische Urteile unterscheiden. Die Urteile der Rechtsgelehrten bezüglich der Apostasie sind politisch und nicht glaubensspezifisch. Dass die Menschen den Islam mit freiem Willen wählen, ist ein wesentliches Prinzip des Islam.

Ich glaube, diese Frage ist eine der mir am meisten seitens der ausländischen Medienvertreter gestellten Fragen. Der Punkt, auf den sie sich stützen, ist eine Antwort, die ich in den 80er-Jahren auf eine Frage gab, als ich in Izmir in der Bornova Moschee als Prediger tätig war. Die Antwort wurde später im Buch „Asrın Getirdiği Tereddütler“ (Fragen an den Islam) veröffentlicht.

Soweit ich mich erinnere, gehe ich auf die Frage umfassend ein, vermittle die Urteile, die in verschiedenen Fiqh-Büchern (Bücher der islamischen Jurisprudenz) zu finden sind und sage: „Falls ein Mensch vom Glauben abfällt, wird er als murtad bezeichnet. Falls er in einer bestimmten Zeit keine Reue zeigt, wird er umgebracht.“ Dies ist ein Urteil, das jedermann bekannt ist und schwarz auf weiß in den Fiqh-Büchern dementsprechend vorkommt. Meine Antwort endet jedoch nicht hier. Im weiteren Verlauf der Rede präzisiere ich, dass dieses Urteil eine Angelegenheit des Staatssystems und eine politische Herangehensweise ist. Ich betone, dass dies „vollauf die Strafe für den Bruch eines zuvor abgeschlossenen Vertrags ist und sich auf das Erhalten des Systems bezieht“. Leider aber versuchen einige Presseorgane, den Verdacht zu nähren, ich sei gegen die Religionsfreiheit, basierend auf dem ersten Satz dieser Predigt.

Falls wir schon dabei sind, lassen Sie mich genauer auf die Fragestellung eingehen: In einer Zeit, in der die Welt in zwei Gebiete unterteilt wurde, den Dar al-Islam (das Gebiet des Islam) und den Dar al-Harb (ungefähre Übersetzung „Gebiete des Krieges“); in einer Zeit, in der fast die ganze nichtmuslimische Welt gegen den Islam und die Muslime den offensiven Krieg erklärt hatten, haben die Fuqaha, die islamischen Rechtsgelehrten, den Abfall vom Islam als Übergang zur gegenüberliegenden Front betrachtet und die Apostasie daher nicht als Glaubensfrage, sondern als ein politisches Verbrechen beurteilt. Dass die Frage der Apostasie in den Fiqh-Büchern in den Kapiteln „Hudud“ und „Sira“ – also dem islamischen Strafrecht und dem Völkerrecht – behandelt wird, ist ein deutlicher Beweis dieser Tatsache. Dass für die vom Glauben abfallenden Frauen nicht die Todesstrafe vorgesehen war, folgt derselben Begründung. Zu der Zeit wurde Frauen keine aktive Rolle in den kriegerischen Auseinandersetzungen zugesprochen. Falls die Apostasie ein theologisches Vergehen wäre, so dürfte es für beide Geschlechter keinen Unterschied machen. Daher wurde auch gegen Uthman ibn Abdallah, der zwar vom Glauben abfiel, sich aber nicht in einer politischen Verratsposition befand, keine Strafe angewendet. 

Daraus kann man folgern, dass – wie ich es schon damals in der Bornova Moschee mit den Begriffen „Opposition zum Vertrag“ und das „Erhalten des Systems“ zu erläutern versuchte – die Fuqaha die Apostasie nicht als eine den Glauben betref- fende Schuld betrachteten, sondern sie als eine politische Straftat behandelten, die als Folge, je nach Art des Vergehens, strafrechtliche Sanktionen bis hin zur Todesstrafe haben konnte. Mit anderen Worten sah die Fuqaha die Apostasie als „Hochverrat“ an. Wie jeder weiß, wird Hochverrat in jedem Rechtssystem weltweit mit den höchsten strafrechtlichen Sanktionen verfolgt. Noch heute wird Hochverrat in Ländern, wo die Todesstrafe angewandt wird, mit dem Tod bestraft, und in Län- dern, in denen es die Todesstrafe nicht gibt, wird Hochverrat – sofern ich weiß – mit lebenslanger Haftstrafe bestraft.




Betrachten wir das Thema aus theologischer Perspektive, so sehen wir, dass sowohl der Koran als auch die Praxis des Propheten Muhammed (Friede sei mit Ihm) den Individuen die Freiheit des Glaubens oder auch Nicht-Glaubens sichern. Die Menschen können, wann immer sie wollen, in Religionen ein- und, wann immer sie wollen, wieder austreten. Das brachte ich auch Herrn Eyüp Can gegenüber im Jahre 1997 in einem Interview folgendermaßen zum Ausdruck: „Im demokratischen Verständnis kann jedes Individuum sich für den Islam oder den Schamanismus entscheiden.

Wer will, kann ihre Gefühle und Gedanken bevorzugen, wer will, kann sich andere aneignen ...

Möglicherweise werden mich einige für meine Worte kritisieren, aber ich persönlich finde es nicht falsch, diese Gedanken zu äußern. Und ich glaube, dass diese Sichtweise weltweit nicht so sehr negativ aufgefasst wird.“ Wenn kein Bestandteil einer Straftat oder eines Verbrechens besteht, ist im Islam ein abstraktes Übertreten in eine andere Religion kein Thema einer weltlichen Sanktion. Verse wie „Wer will, kann glauben, wer nicht will, soll nicht glauben“ und „Es gibt keinen Zwang in der Religion“ sichern die Freiheit des Menschen, in eigenem Willen zu glauben. Der größte Beweis hierfür ist, dass der Prophet (Friede sei mit Ihm) sein Leben lang nicht einen einzigen Menschen dazu gezwungen hat, zu glauben und zum Islam überzutreten. Außerdem wäre das Gegenteil, also das Öffnen der Türen für jene, die Muslim sein möchten, und das Drohen mit der Todesstrafe im Falle der Apostasie eine Art Doppelmoral, die dafür sorgen würde, dass sich in der Gemeinschaft Heuchler vermehren würden. Eine solche Annäherungsweise würde eine Mentalität hervorbringen, in der Vielfalt bekämpft wird und eine totalitäre Geisteshaltung herrscht, was völlig gegen die Prinzipien und authentischen Anwendungen des Islam bezüglich des Verwaltungssystems verstößt.

Man sollte Folgendes nicht vergessen: Religionsfreiheit gehört zu den Grundrechten und -freiheiten. Das Respektieren dieser Freiheiten ist nur durch das Wahrnehmen der Verantwortung, die daraus resultiert, möglich. In der islamischen Religion ist es essenziell, jeden Einzelnen in seiner Haltung und seiner Identität zu akzeptieren, die Rechte und Freiheiten aller Bürger zu gewährleisten, soweit sie nicht die Rechte und Freiheiten Dritter beeinträchtigen, das Gleichheitsprinzip vor dem Gesetz zu achten, keine Ideologie oder Weltanschauung mit politischen Mitteln aufzudrängen und niemanden auf Grundlage seiner oder ihrer ethnischen, kulturellen oder religiösen Herkunft oder ähnlichem zu diskriminieren, zu missachten oder zu verhöhnen.

Soweit zum weltlichen Aspekt der Sache. In Bezug auf das Jenseits sieht der islamische Glaube, wie andere Religionen auch, eine Reihe von Bestrafungen für die Apostasie vor. Doch das ist nicht unser Thema.

SDuB: Gilt das Gleichheitsprinzip vor dem Gesetz allein für Muslime oder ist es eine allgemeingültige rechtliche Grundlage?

Als ich auf die Frage der Glaubens- und Religionsfreiheit antwortete, ging ich teilweise darauf ein. Nein, nach dem Islam gilt die Gleichheit vor dem Gesetz für jeden Einzelnen, ob Mann oder Frau, Muslim oder Nicht-Muslim, Chef oder Angestellter. Verse des Korans (wie zum Beispiel in an-Nisa 4: 135), die unterstreichen, dass sogar, wenn es um die eigenen Eltern geht, nicht die Linie der Gerechtigkeit verlassen werden darf, wurden im Laufe der islamischen Geschichte so verstanden, dass es keine privilegierte Gruppe vor dem Gesetz gibt und geben wird.


Unsere Hauptquellen, der Koran und die Sunna, legen klar fest, dass niemand über dem Gesetz stehen darf und jeder vor dem Gesetz gleich ist. Einige individuelle Urteilsfindungen der islamischen Gelehrten in den Fiqh-Büchern, die dem Prinzip der Gleichheit von Muslimen und Nicht-Muslimen vor dem Gesetz zu widersprechen scheinen, beziehen sich meines Erachtens auf den historischen Prozess und auf das jeweilige Umfeld. Denn wir sehen als Beleg hierfür, dass in vielfältigen und pluralistischen geografischen Regionen, wo mehrheitlich die hanafitische Rechtsschule vertreten ist, eher Anerkennung und Akzeptanz vorherrschen und das Gleichheitsprinzip vor dem Gesetz dominanter ist als in anderen Rechtsschulen.

SDuB: Wie würden Sie Ihre Perspektive auf Wissenschaft und ihr Verhältnis zur Ethik beschreiben?

Ich verstehe die Wissenschaft als einen Akt, die Schöpfung wie ein Buch zu lesen, welches der Allmächtige für gläubige Menschen erschaffen hat. Menschen, die nicht an einen erhabenen Schöpfer glauben, können auch einer wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen, und das tun sie auch.

Damit die Erkenntnis, welche als ein Ergebnis der Wissenschaft erzielt wird, und die Technologie, welche wiederum ein Produkt der Erkenntnis ist, zum Wohle der Menschheit eingesetzt wird, müssen Wissenschaftler einen ethischen Standpunkt vertreten. Sonst ist es wahrscheinlich, dass Technologien entwickelt werden, die die Menschheit in eine Katastrophe stürzen.

Dem Fundament dieses ethischen Verständnisses liegen basale Werte wie der Schutz des Menschen, das Wertschätzen des Lebens, die Gerechtigkeit, das Mitgefühl und das Verant- wortungsbewusstsein zugrunde. So wie diese ihren Ursprung in der Religion haben, rühren sie eigentlich auch aus der natürlichen Veranlagung des Menschen her. Beispielsweise ist das primäre Prinzip der Medizin „an erster Stelle steht, dem Patienten keinen Schaden zufügen“ ein derartiges ethisches Prinzip. So wie Muslime sich zu diesem Prinzip bekennen, bekennen sich auch christliche, jüdische, humanistische oder auch atheistische Ärzte dazu bevor sie ins Berufsleben starten.




Bei wissenschaftlichen Tätigkeiten, insbesondere bei denen, die den Menschen als Forschungsgegenstand haben, oder bei Tätigkeiten, deren Ergebnisse eine Auswirkung auf die Menschen haben, liegen der Schutz des Menschenlebens, des Verstandes, der Gesundheit, der Nachkommenschaft und der Schutz von Ähnlichem zugrunde.

In dieser Angelegenheit sind die natürliche Veranlagung des Menschen und der gesunde Menschenverstand gleichermaßen wichtige Referenzen wie der Glaube und die Religion. Daher ist es möglich, dass auch Menschen, die an einem erhabenen Schöpfer nicht glauben, wie religiöse und gläubige Menschen, aus ihrer Veranlagung heraus oder auf der Vernunft basierend oder aus Menschlichkeit ein hohes ethisches Verständnis besitzen.

Für Wissenschaftler ist nicht die religiöse Zugehörigkeit das Wesentliche, sondern dieses ethische Verständnis. Sollten aber die Menschen, die wissenschaftlich tätig sind, dieses ethische Verständnis nicht haben, ist zumindest zu erwarten, dass dies bei Instanzen, die deren Forschungen oder der Anwendung der Forschungsergebnisse eine Richtung geben, der Fall ist.

SDuB: Wie bewerten Sie die Beziehung des türkischen Staats zu den in seinem Staatsgebiet lebenden Kurden?

Ich kann nicht behaupten, dass der türkische Staat in der Geschichte der Republik eine unseren Werten entsprechende Politik im Südosten des Landes verfolgt hat. Auf Gewalt wurde mit Gewalt reagiert. Die diesbezügliche Sicherheitspolitik des Staates hat aus einem diplomatisch zu lösenden Problem einen Wundbrand gemacht.
Man muss offen dafür sein, sich mit jedem einigen zu kön- nen, und natürlich offen gegenüber dem Frieden sein. Auf diese Weise steigt die Bereitschaft für einen Frieden in einem legitimen Rahmen. Völlig unabhängig davon, in welchem Umfeld man sich befindet, sollte jeder Mensch bestrebt sein, einen glo- balen Frieden und ein friedliches Zusammenleben zu erreichen. Ich hatte es bereits schon mal in einem anderen Zusammenhang gesagt: Der Segen liegt im Frieden und der Frieden ist stets gesegnet. Um bei diesem Thema eine nachhaltige Lösung zu finden, muss die gesamte Region in Betracht gezogen werden, und es müssen durch umfangreiche Maßnahmen die Versäumnisse vergangener Jahrzehnte behoben werden.

1. Multiplikatoren stärken – Im Allgemeinen muss sich der Ansatz des Staates bezüglich dieser Region und seinen Menschen ändern. Menschen, denen das hiesige Volk großen Wert beimisst, sollten mit Respekt behandelt werden. Man sollte größeren Wert auf den Austausch mit Meinungsführern, Gelehrten und Würdenträgern vor Ort legen. Andernfalls wird man eine unschuldige Bevölkerung in die Fänge des Terrors drängen.

2. Bildungsoffensive – Seit 1993 wiederhole ich immer und immer wieder, dass der Terror nicht durch das Militär, sondern durch Bildung beendet werden kann. Falls der Staat hierzu nicht in der Lage ist, sind NGOs und Stiftungen gefordert, die Bildung an diese Orte zu bringen. Auch wenn nicht in naher Zukunft, werden die Jugendlichen nach ihrem Studium als Ärzte, Ingenieure und Lehrer in ihre Heimat zurückkehren und für einen Aufschwung in der Region sorgen. Somit kann man auch verhindern, dass sich die Jugendlichen für den Terror entscheiden und in die Berge gehen. Zahlreiche Lesesalons sorgen zurzeit dafür, dass unzähligen Kindern der Bildungsweg und die Türen der Universitäten geöffnet werden.

3. Investitionen – Es ist von immenser Bedeutung, dass Regionen mit großem kurdischen Bevölkerungsanteil attraktiv für Investoren und Arbeitgeber gemacht werden; vor allem das Studieren muss an Reiz gewinnen. Wenn die Probleme auf der Ebene der Bildung gelöst werden, werden viele andere Probleme mitgelöst. Bis heute fühlten sich die Menschen ohne Ausbildung von der Gesellschaft verstoßen und als Menschen zweiter Klasse.

4. Das Geben von Rechten und Freiheiten – Die Rechte und Freiheiten der Menschen sind keine Geschenke oder Gaben der Regierungen an ihre Bürger. Das sind Rechte, die jedem Menschen von Geburt an von unserem allmächtigen Erschaffer gegeben werden. Als Menschen und Geschöpfe Gottes sind alle Menschen gleich. Das gilt sogar für die Propheten. Ohne diese Gleichheit als Voraussetzung anzuerkennen, kann keine Gerechtigkeit herrschen. 




Auf der einen Seite müssen wir aufhören, uns durch Worte und Handlungen als den Gütigen darzustellen und die fundamentalen Rechte und Freiheiten als Verhandlungsmittel gegen andere Werte zu verwenden. Auf der anderen Seite muss man aufhören, den universellen Werten widersprechende, illegitime und explizite Gewalt beinhaltende Wege einzuschlagen, ganz egal, welchem Zwecke sie dienen mögen. Genauso wie Rassen, Hautfarben, Volks- und Stammeszugehörigkeiten zählen auch die Sprachen zu den Zeichen Gottes. Jedes Volk hat seine eigene Muttersprache. Das Erlernen und Lehren der eigenen Sprache ist ein universelles Menschenrecht.
Natürlich darf einer Bevölkerung das Erlernen der Muttersprache nicht verboten werden. Das ist grausam, unmenschlich und eine Auflehnung gegen die Natur des Menschen. Folglich kann ein solches Verbot nicht lange Zeit fortgesetzt werden.

5. Bewusstseinsänderung bei Beamten – Die in dieser Region zuständigen Beamten – vom Gouverneur über Soldaten und Polizisten bis hin zum Steuerbeamten – sollten sich als Repräsentanten des Staates den Menschen mit Mitgefühl annähern. Dieses Problem lässt sich nicht mit roher Gewalt lösen. Es wird sich wohl keiner finden, der Maßnahmen, die darauf abzielen, das jahrelange Blutvergießen zu beenden, ablehnt. Vergangenes Leid sollte kein Hindernis für unsere Zukunft darstellen. Wichtig ist es, in die Zukunft zu schauen und konstruktives Verhalten an den Tag zu legen. Mit der Organisation (PKK) können Verhandlungen geführt werden, darin sehe ich kein Hindernis. Das Ansehen des Staates sollte hierbei jedoch nicht verletzt werden.

Die Aufgabe, die hier der Türkei obliegt, ist es, einerseits die Rechte und Freiheiten ihrer kurdischstämmigen Bürgerinnen und Bürgern anzuerkennen, aber sich auch andererseits für Kurden in anderen Regionen einzusetzen und ihnen zu helfen. Sie sollte Kurden, die aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen Leid ertragen mussten, auch auf internationaler Ebene, z. B. bei der UNO oder anderen Organisationen, beschützen und sie im Namen der Gerechtigkeit vertreten. Alle Schritte, welche die Streitigkeiten zwischen uns aufzuheben vermögen und unsere Einigkeit fördern, sind begrüßenswert.

Einige Menschen in der Region sowie die Terrororganisation (PKK) behaupten, durch unsere Schulen und Bildungseinrichtungen würden wir versuchen, die kurdische Bevölkerung zu assimilieren. Doch ich habe stets betont, wie wichtig es ist, beispielsweise die kurdische Sprache aufrechtzuerhalten, kurdische Sender zu eröffnen und Kurdisch als Wahlfach an Schulen zu unterrichten, die Sprache an Universitäten zu lehren.

Wir müssen stets unsere Gemeinsamkeiten betonen, die gegenseitigen Hilfeleistungen, die Solidarität und die gemeinsamen Potenziale auf kultureller und wirtschaftlicher Ebene ausbauen und versuchen, diese auf weitere Ebenen auszuweiten. Initiativen, welche die Verbundenheit beider Völker unterstreichen und verstärken, sollten unterstützt und gefördert werden.

SDuB: Und was sagen Sie zum Verhältnis zu den Aleviten?

Sei es in dem Haus meiner Eltern, in der Medrese, in der ich ausgebildet wurde, in der Tekke oder sei es in der Tradition von Said Nursi, war die Liebe und Verbundenheit zu Ahl al-Bayt (Familienangehörige und Nachfahren des Propheten Muhammed – Friede sei mit Ihm) und das mystische Alevitentum stets eine der bedeutendsten Fundamente; und sie sind es heute noch. So sehr, dass aufgrund der Liebe zu Ahl al-Bayt bei uns zu Hause meine Leidenschaft für den Kalifen Ali die Liebe zu anderen Sahabas (die Gefährten des Propheten Muhammed – Friede sei mit Ihm) bei weitem übertraf. In diesem Sinne habe ich als Reaktion auf die Vorfälle in Gaziosmanpaşa von 1995 gesagt, dass auch ich ein Alevite bin; und genauso sind auch meine Mutter und mein Vater Aleviten.
Meiner Ansicht nach kann das Alevitenthema mit einem strikten Laizismus und einer rassistischen Herangehensweise, roher Gewalt oder einem Ansatz, der alternative Auslegungen des Islam ablehnt, nicht gelöst werden.

Um die – leider auch oft künstlich angefachten – Spannungen zwischen Aleviten und Sunniten in der Türkei zu beseitigen und die seit Jahren existierenden gegenseitigen Vorurteile abzubauen, sollten folgende drei Sachen in Betracht gezogen werden: Zunächst einmal, Aleviten und Sunniten kennen einander nicht. Trotz zahlreicher Brücken zwischen beiden ist es zu einer Entfremdung gekommen. Diese Entfremdung muss beendet werden. Das Alevitentum stellt eine weitere Quelle des Reichtums dar. Meiner Meinung nach sollte das Alevitentum aus Sicht der Sunniten nicht außen vor gelassen, sondern verwertet werden. Während der gesamten islamischen Geschichte wurden die Aleviten nie als außerhalb des Islam stehend wahrgenommen.

Falls das Alevitentum die Liebe zu Ali und der Ahl al-Bayt ist, so kann gesagt werden, dass jeder Muslim sich als Aleviten bezeichnen kann. Ein gegenseitiges und intensiveres Kennenlernen bildet eine weitere Ebene, von der beide Seiten profitieren können. Um von dieser Gemeinsamkeit und diesem Reichtum profitieren zu können, müssten sich die Aleviten auch den Sunniten gegenüber öffnen.
Eine zweite Sache, über die man nachdenken sollte, ist folgende: Das auf mündlichen Überlieferungen basierende Alevitentum wird oftmals missbraucht. Die schriftlichen Quellen des Alevitentums erreichen nicht die jungen Generationen. Es muss für das Zusammentreffen der schriftlichen Quellen mit den jungen Generationen gesorgt werden.



Das Alevitentum basiert auf einer Überlieferungskultur, die von Angesicht zu Angesicht weitergegeben wird. Ich habe schon oft auf die Bedeutung dessen hingewiesen, dass diese Kultur verschriftlicht werden sollte, und damit sie eine wissenschaftliche Identität bekommt, sollten die Cem-Häuser mit diesen alevitischen Quellen ausgestattet werden.

Mehrmals habe ich vorgeschlagen, dass Werke derjenigen Gelehrten, die von Aleviten als Referenz angesehen werden, in die moderne türkische Sprache übersetzt und unter Aleviten und Sunniten gleichermaßen verbreitet werden sollten. Mit der Gründung der Republik wurde auch die Religionsbehörde Diyanet gegründet. Selbstverständlich sollten die Aleviten studieren und bei der Diyanet angestellt werden können. Sie sollten in ihren Gebets- oder Cem-Häusern als Vorbeter entsprechend der alevitischen Vorgaben die Gebete leiten können. Falls sich die Aleviten als eine Konfession wahrnehmen, dann können sie einen entsprechenden Status in der Türkei verlangen wie Nusayriten, Armenier, Griechisch-Orthodoxe, Protestanten oder Baptisten. Nehmen sie sich als ein Orden wahr, so wie auch beispielsweise der Weg von Hacı Bektaş Veli als der eines Ordens wahrgenommen wird, so können auch sie einen entsprechenden Status verlangen.

Und drittens sollten als Zeichen des alevitisch-sunnitischen Zusammenhalts Moscheen und Cem-Häuser nebeneinander erbaut werden. Bisher habe ich zu verschiedenen Anlässen dieses Projekt erläutert. Heute wird es auch von staatlicher Seite unterstützt. Ich habe beispielsweise meine Freunde in Tunceli bereits vor Jahren dazu motiviert, Cem-Häusern zu helfen und sie zu unterstützen. In Izmir Narlıdere haben wir einmal an einem gemeinsamen Schulprojekt gearbeitet. Wir hatten freundschaftliche Beziehungen zu einem alevitischen Dede, der früher auch als Senator tätig war. Schon damals hatten wir gemeinsam die Idee, eine Moschee und ein Cem- Haus nebeneinander zu errichten. Das war auch früher die Praxis im Osmanischen Reich: eine Moschee neben einer Kirche und daneben eine Synagoge. Das sind alles Praktiken, die uns eigentlich nicht fremd waren und uns erfreuten. Dies sind wichtige Maßnahmen, durch die die Feindschaften und die verhärteten Fronten, die fern von jeglicher Vernunft entstanden sind, aufgelöst werden können.

SDuB: Was halten Sie vom Nationalismus als Ideologie?

Ich sehe Nationalismus nicht als eine Ideologie und lehne eine ideologische Herangehensweise ihm gegenüber ab. Im Sinne dessen, dass ein Volk stolz auf die Errungenschaften seiner Vorfahren ist und diese als Vorbilder sieht, ihre positiven Seiten übernimmt, sich ihre Standards als Ziel setzt und diese als Teil der eigenen Identität wahrnimmt, finde ich ihn nicht falsch.
Den Menschen als heilig zu behandeln, weil der ein Geschöpf Gottes ist, ist ein Grundprinzip des Islam, welches ich mein ganzes Leben lang vertreten habe.

Jeder Mensch kann aufgrund zahlreicher Gemeinsamkeiten Sympathien gegenüber seinen Landsleuten, Glaubensgenossen, Sprachgenossen, ihm kulturell nahestehenden Menschen usw. pflegen. Dies darf jedoch unter keinen Umständen dazu führen, andere Menschen als schlecht oder minderwertig wahrzunehmen.

Menschenrechte, Freiheiten oder Nachbarschaftsrechte sind für jeden Menschen gültig. Rassismus und Völkermord als Folge von Nationalismus sind Grausamkeiten und Verbrechen, die weder im Glauben noch in der Menschlichkeit einen Platz haben.

SDuB: Wie ist Ihre Haltung zum politischen Islam?

Zunächst einmal möchte ich folgende Sache betonen: Der Islam ist der Name einer Religion. Daher empfinde ich es als ungemessen, ihn nach „politisch“, „nicht-politisch“, „radikal“ „gemäßigt“ oder ähnlichen Kategorien zu klassifizieren.

Es gibt heutzutage Ansätze, die man als „politischen“ Islam bezeichnet. In einigen von ihnen wird versucht, mit staatlicher Hand eine bestimmte Lebensart vorzuschreiben.

Um soziale Probleme zu lösen und eine tugendhafte Gesellschaft aufzubauen, ist es notwendig, am Menschen zu arbeiten. Ich habe immer betont, dass man soziale Probleme lösen und eine tugendreiche Gesellschaft nur dann bilden kann, wenn man am Menschen arbeitet. Der Mensch ist sowohl die Quelle aller sozialen Probleme auf der Welt als auch deren Lösung, indem ein jeder seinen Horizont erweitert und ein tugendhafter Mensch wird. Dies geschieht am besten auf dem Wege der Bildung sowie des gesellschaftlichen und kulturellen Engagements.

Wenn man mittels staatlicher Macht den Menschen eine bestimmte Lebensweise aufdrängt und insbesondere wenn hierfür ein religiöser Diskurs verwendet wird, macht man aus ihnen nur Heuchler. Aus Sicht der Individuen ist es grundlegend, dass sie einerseits ihr religiöses Leben bestmöglich ausleben, aber auch andererseits sich als Bürger im Rahmen der Gesetze am demokratischen Prozess beteiligen, ihre Meinung kundtun und ihre demokratischen Rechte und Freiheiten in Anspruch nehmen können.

Zweitens nimmt die Religion durch die Politisierung der Religion mindestens so viel Schaden wie von ihren Feinden. Denn wenn man sich die religiösen Vorschriften anschaut, so sieht man, dass sich lediglich ein minimaler Teil von ihnen, vielleicht zwei Prozent, auf Regierung und Verwaltung bezieht. Die restlichen 98 Prozent beziehen sich auf moralische und spirituelle Werte, nach denen sich Individuen, Familien und die Gesellschaft richten sollen: Vom Glauben an Allah über das Verrichten des Gebets und die Vergabe von Almosen bis hin zum Respekt den Eltern gegenüber.


Wenn diese 98 Prozent, die den Glauben, Güte und die moralischen Werte bilden, außer Acht gelassen werden und die zwei Prozent, die die Verwaltung, die Wirtschaft und politische Führung behandeln, zum bestimmenden Element von allem werden, schadet dies am meisten der Religion selber.

Drittens: Wenn man eine Religion aus einer politischen Perspektive zu betrachten versucht, verliert sie ihre Eigenschaft als Religion und verkommt zu einer politischen Ideologie.
Leider wurde die Religion in der vergangenen Zeit in einigen Regionen von einigen Akteuren mit all ihren Werten als Instrument säkularer Politik missbraucht und diese Akteure behaupteten von sich, die einzigen „Vertreter des Glaubens“ zu sein. Die Aussage „Die Religion ist politisiert“ wurde als richtige Schlussfolgerung angesehen. Ich hatte bereits in einem vorherigen Interview erwähnt, dass die Politisierung der Religion und ihre Instrumentalisierung als eine politische Ideologie ihrem Geist schadet.

Viertens: Die Regierungsbilanz derjenigen in der islamischen Welt, die sich als Vertreter des politischen Islams sehen, ist leider negativ. Soweit ich es verfolgen konnte, gingen und gehen diese Akteure nicht etwa mit wirtschaftlichen, juristischen, militärischen, moralischen oder kulturellen Erfolgen in die Geschichte ein, sondern im Gegenteil mit ihren Misserfolgen. Das ist eigentlich eine große Enttäuschung für die muslimische Welt. Eben jene Regierungen sind bei der Umsetzung universeller Normen wie Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechte weit hinter den entwickelten demokratischen Staaten zurückgeblieben. Dass man heute nicht von den Mekkanischen, Istanbuler oder Kairoer, sondern Kopenhagener Kriterien spricht, verdeutlicht sehr klar die Situation, in denen sich die islamische Welt in Bezug auf universelle Werte und Demokratie in dieser Zeit befindet.