Fethullah Gülen als spiritueller Mentor – Makuliyet und die Weite der Barmherzigkeit

20.10.2025, Talha Güzel: 

Wenn man das geistige Wirken Fethullah Gülens über Jahrzehnte hinweg betrachtet, fällt eines besonders auf: Er hat die seltene Gabe, Menschen, Ideen und selbst Konflikte innerhalb eines Rahmens der Makuliyet – also des Maßes, der Angemessenheit und der Fairness – zu betrachten. Diese Haltung ist nicht bloß eine pädagogische Strategie, sondern Ausdruck einer tief verinnerlichten spirituellen Sicht auf die Welt. Sie wurzelt in der Überzeugung, dass jeder Mensch und jede Position innerhalb der göttlichen Schöpfungsordnung einen Ort hat – nicht als Zustimmung, sondern als Ausdruck einer umfassenden Sicht auf die Wirklichkeit.

zitat 1

Hocaefendi wendet diese Haltung konsequent an – auch dort, wo islamische Gelehrtentraditionen oft unnachgiebig geworden sind. Besonders deutlich wird das an seiner Betrachtung umstrittener mystischer Figuren der islamischen Geschichte, etwa Mansur al-Hallaj. Hallaj war ein Mystiker des 10. Jahrhunderts, der durch seine ekstatischen Aussprüche – insbesondere „ene‘l-Haqq“ („Ich bin die Wahrheit“) – in scharfen Gegensatz zur islamischen Orthodoxie geriet. Viele religiöse Autoritäten verurteilten ihn als Häretiker. Gülen hingegen schlägt einen anderen Ton an: Er liest Hallaj nicht als Irrlehrer, sondern als Mensch, der aus der „Weite der göttlichen Barmherzigkeit“ argumentiert.

Diese Perspektive ist theologisch bemerkenswert. Der Lehrmeister unterscheidet sorgfältig zwischen Glaubenslehre und spirituellem Zustand. Hallaj, so Gülen, habe aus einer mystischen Erfahrung heraus gesprochen, die nicht wortwörtlich zu verstehen sei. Seine Worte stammten aus einem Zustand völliger Versenkung in die göttliche Liebe – einem Zustand, in dem Kategorien wie richtig und falsch nicht im üblichen Sinn greifen. Damit rehabilitiert Gülen nicht einfach historische Figuren, sondern verschiebt den Blickwinkel: Er lädt dazu ein, ihre Aussagen innerhalb ihres geistigen Horizonts zu deuten.

Ein prägnantes Beispiel dieser Haltung ist Hallajs berühmter Gedanke, man solle „Liebe vom Teufel und Gehorsam von Adam lernen“. Ein Satz, der oberflächlich betrachtet wie eine Provokation wirkt. Gülen dagegen ordnet ihn ein: Der Teufel wird hier nicht als moralisches Vorbild verstanden, sondern als Ausdruck einer einseitigen, ausschließlichen Liebe, die keine zweite Instanz neben Gott anerkennt. Der Lehrmeister teilt diese Ansicht nicht, betont aber, dass Menschen wie Hallaj und Ibn Arabî die Wirklichkeit aus der Perspektive der unendlichen Weite der göttlichen Barmherzigkeit betrachten – und selbst für den Teufel noch einen Ausweg suchen.

Diese Art der Deutung erfordert theologische Sensibilität, historische Bildung und eine tiefe spirituelle Gelassenheit. Gülen demonstriert damit, was Mentorschaft im geistigen Sinn bedeutet: nicht schnelle Urteile zu fällen, sondern Räume des Verstehens zu öffnen. Er verkörpert eine Haltung, die nicht die Unterschiede verwischt, sondern sie in einen größeren Zusammenhang einordnet. Genau darin liegt eine Form spiritueller Autorität, die nicht auf Macht beruht, sondern auf Deutungskompetenz, Gelassenheit und Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes.

Über das rein Spirituelle hinaus hat diese Haltung auch eine gesellschaftliche Dimension. In einer Zeit wachsender Polarisierung, in der die Tendenz besteht, Positionen entweder als absolut richtig oder völlig falsch zu klassifizieren, erinnert Gülens Makuliyet-Verständnis daran, dass differenziertes Denken ein Zeichen von Reife ist. Wer selbst um die Begrenztheit des eigenen Standpunkts weiß, ist eher bereit, auch die Perspektive anderer in einen Deutungsrahmen einzubetten.

Diese Denkweise macht Gülen zu mehr als einem religiösen Gelehrten. Sie macht ihn zu einem spirituellen Mentor, der nicht belehrt, sondern Orientierung bietet. Er fordert nicht blinden Gehorsam, sondern regt zu eigenständigem Denken an – allerdings in einem Rahmen, der das Göttliche als letzte Instanz anerkennt. Das unterscheidet ihn sowohl von religiösem Dogmatismus als auch von einem grenzenlosen Relativismus.

Am Ende ist Hocaefendis Haltung Ausdruck einer bestimmten Sicht auf die Welt: einer Welt, in der Barmherzigkeit als Essenz allen Seins verstanden wird. Wer Menschen in diesem Lichte betrachtet, erkennt selbst im Widerspruch einen Anlass zum Nachdenken – nicht zur Ausgrenzung. Und genau darin liegt vielleicht die größte Mentorschaft: nicht Menschen zu verändern, sondern den Raum zu schaffen, in dem sie verstanden werden und wachsen können.

Folge 1: Podcast zum Gedenken an Fethullah Gülen

sdub favicon
  • Erinnern als Glaubenspraxis – Gedenken im Islam

    mit Imam Osman Örs vom House of One