Zeitschrift DuB 7: Geschlechtergerechtigkeit in Gesellschaft und Islam

Über den Islam und die Rolle der muslimischen Frau wird in der deutschen Gesellschaft oft und sehr kontrovers diskutiert. Bei der Frage nach Geschlechtergerechtigkeit im Islam wird vielmals geurteilt, der Islam würde Frauen diskriminieren. Doch die Frage, die sich hier sofort stellen müsste, lautet: Welcher Islam? Die islamische Theologie und Rechtsprechung entwickelten sich aus einem Diskurs heraus, der heute erneut aufgegriffen und weitergeführt werden muss. Das vorliegende Heft behandelt die Geschlechtergerechtigkeit im Islam und was die Hizmet-Bewegung für das Empowerment von Frauen in der Gesellschaft leisten kann.

Themen der aktuellen Ausgabe:

  • Gleichstellung der Frau in der Lehre des Islams

    Dr. Arhan Kardaş

  • Frauen in der Hizmet-Bewegung: Zwischen Empowerment und patriarchalen Strukturen

    Yasemin Aydın-el Hassan

  • Frauen in der Hizmet-Bewegung

    Prof. Dr. Margaret J. Rausch

Klappentext

In der islamischen Auslegung steht die Frau dem Mann vor Gott gleich (Geschlechtergerechtigkeit). Demnach haben Frauen wie Männer dasselbe Anrecht auf Leben, Freiheit, Gründung einer Familie und das Recht auf Intimität und Privatsphäre. Auch ihre Sexualität und ihre Würde stehen gleichermaßen unter Schutz und sind unantastbar.
Fethullah Gülen sagt 2012 in einem Interview in der FAZ, dass die Frau eine freie und eigenständige Persönlichkeit hat und ihre Weiblichkeit sie weder einengt noch ihr ihre Qualifikationen abspricht. Des Weiteren betont er, dass sie ihr Recht einfordern muss, wenn dieses verletzt wird. Er kritisiert, dass unterschiedliche muslimisch geprägte Gesellschaften ihre Gewohnheiten und Traditionen zur Grundlage für Interpretationen der Religion und der Heiligen Texte machten und somit die Rechte der Frau veräußerten und ihre Lebenswelt einschränkten.

Vorwort

Die Frau in Hizmet und Gesellschaft

von Şefika Coşkun
Stiftung Dialog und Bildung

Über den Islam und die Rolle der muslimischen Frau wird in der deutschen Gesellschaft oft und sehr kontrovers diskutiert. Die Diskussionen sind stark von Vorurteilen und Ressentiments geprägt, wobei vor allem die Rolle der muslimischen Frau vielfach ideologisch aufgeladen und instrumentalisiert wird – und zwar überraschenderweise nicht nur von erklärten FeministInnen, sondern auch oft und mit großer Leidenschaft von Personen, die sich Genderfragen gegenüber sonst eher verhalten bis ablehnend zeigen.

Nachdem sich der Bund Deutscher Dialog Institutionen (BDDI) bereits in seiner Dialogakademie 2018 dem Thema »Geschlechtergerechtigkeit und Empowerment« gewidmet hat, wollen wir als Stiftung Dialog und Bildung mit diesem DuB-Heft das Thema erneut aufgreifen und einen besonderen Fokus auf die Frauen in Hizmet setzen.

In der islamischen Auslegung steht die Frau dem Mann vor Gott gleich. Demnach haben Frauen wie Männer dasselbe Anrecht auf Leben, Freiheit, Gründung einer Familie und das Recht auf Intimität und Privatsphäre. Auch ihre Sexualität und ihre Würde stehen gleichermaßen unter Schutz und sind unantastbar.

Fethullah Gülen sagt 2012 in einem Interview mit Rainer Hermann, dass die Frau eine freie und eigenständige Persönlichkeit hat und ihre Weiblichkeit sie weder einengt noch ihr ihre Qualifikationen abspricht. Des Weiteren betont er, dass sie ihr Recht einfordern muss, wenn dieses verletzt wird. Er kritisiert, dass unterschiedliche muslimisch geprägte Gesellschaften ihre Gewohnheiten und Traditionen zur Grundlage für Interpretationen der Religion und der Heiligen Texte machten und somit die Rechte der Frau veräußerten und ihre Lebenswelt einschränkten.

In manchen Gebieten wird sie sogar ganz aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen. Unterdrückende und diskriminierende Herrschaftsformen haben nichts mit den Grundprinzipien des Islam gemein, sondern sind eher kulturspezifisch und traditionell verankert. In patriarchalen Gesellschaften wird Unterdrückung durch die Religion legitimiert und versucht, Frauen ihre Rechte abzusprechen, die ihnen seitens ihrer Religion zustehen.

Bekanntlich finden sich im Koran keine expliziten Verbote, dass sich die Frau aktiv am Leben beteiligt und Funktionen des öffentlichen Lebens einnimmt. Und in den Hadithen wird berichtet, dass zu Lebzeiten des Propheten Muhammed (Friede und Segen seien auf ihm) eine ganze Reihe von Musliminnen als weibliche Gelehrte Macht und Einfluss hatten. Frauen wie Aischa, Ummu Seleme oder Hafza sind aus der islamischen Ideengeschichte nicht wegzudenken und hatten maßgeblichen Einfluss auf Formung der islamischen Theologie und Rechtswissenschaften.

In seinem Vortrag bei der erwähnten Dialogakademie 2018 thematisierte der Theologe Samet Er, dass die Frauenfrage bisher nicht sonderlich präsent war. Das läge daran, dass die Koran- und Hadithwissenschaften in späteren Epochen lange Zeit männlich dominiert gewesen seien und deswegen die weibliche Perspektive in Interpretationen kaum zur Geltung gekommen wäre. Dies änderte sich unter der aktuell zunehmenden Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter.

Es gibt eine islamische Form des Feminismus , der auf Basis des Korans die Gleichheit der Geschlechter im Islam und in der Gesellschaft zu begründen versucht. Auf diese Weise erkämpfen sich Frauen in männerdominierten Feldern eine gewisse Autonomie. Beispielsweise wurden im muslimischen Kontext körperpolitische Urteile – also die kulturell spezifische und soziale Einordnung und Bewertung des weiblichen Körpers – bisher ausschließlich oder zumindest überwiegend von männlichen Gelehrten getroffen, schon allein, weil Musliminnen keinen Zugang zu Machtpositionen als Gelehrte hatten. Unterschiedliche Betrachtungsweisen, insbesondere Neu-Interpretationen islamischer Grundlagentexte aus weiblicher Sicht dürften also den Denkhorizont aller erweitern.

Im Denken Gülens ist die Frau aus keiner Rolle explizit ausgeschlossen. Vor allem sollte die Rolle der Frau nicht beschränkt werden auf Care-Arbeit wie Kindererziehung, Pflege und Haushalt. Dementgegen herrscht in manchen Köpfen – leider auch in denen von Hizmet-Engagierten – immer noch eine nicht mehr zeitgemäße Idee traditioneller Rollenmuster. Dabei entscheiden sich Frauen heutzutage gleichermaßen für Beruf und Karriere wie auch für die Verantwortung in Familie und Haushalt, manchmal alternativ im entweder oder, manchmal parallel im sowohl, als auch. Aus dem Wunsch nach Gleichberechtigung wird dabei oftmals ein Spagat. Um allen Verantwortungen gerecht zu werden, stellen Frauen ihre eigenen Bedürfnisse selbstlos zurück und geraten in eine gesundheitlich belastende Doppel- oder Mehrfachbelastung. Der Ruf nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird lauter, auch innerhalb der Hizmet-Bewegung, wo informelle Strukturen und Arbeitsweisen eine faire Verteilung von Aufgaben, Verantwortung und öffentlicher Repräsentanz erschweren. Das Ziel, Frauen in Hizmet strukturell zu stärken, könnte also gleichzeitig die Arbeitsprozesse in den vielfältigen Hizmet-Organisationen professionalisieren und so auch für Männer das Arbeitsklima verbessern.

Neben den Aspekt mangelnder Sichtbarkeit und Beteiligung von (muslimischen) Frauen in (muslimisch geprägten) Organisationen tritt der Aspekt spezifischer Benachteiligung muslimischer Frauen in allen Bereichen des Lebens. Das Kopftuch als äußerlich sichtbares Bekenntnis für den eigenen Glauben wird in der westlichen Welt oftmals als politisches, nationales oder ethnisches Symbol interpretiert oder auch als Ausdruck patriarchaler Unterdrückung.

Aufgrund dieser Mehrfach-Konnotation sind muslimische Frauen immer wieder mit unterschiedlichsten Formen der Diskriminierung konfrontiert: Im Alltag sehen sie sich als Frau, als Mutter, als Migrantin und als Muslimin vielfachen Herausforderungen und Benachteiligungen ausgesetzt.

Während muslimische »Kopftuchfrauen« als Verkörperung prinzipieller Unmündigkeit, Ungleichheit und Unterdrückung betrachtet werden, wird der weißen deutschen Kultur per se Geschlechtergerechtigkeit und Emanzipation zugeschrieben. Indem Musliminnen auf diese Weise herabgesetzt werden, wird die gesellschaftliche Herabsetzung von Nicht-Musliminnen in der westlichen Gesellschaft relativiert. Intersektionale Solidarität wird erschwert.

Eine muslimische Feministin gilt als Widerspruch in sich. Manche nicht-muslimische FeministInnen sprechen bekennenden muslimischen Frauen sogar gänzlich ihre Mündigkeit und Urteilskraft ab – und akzeptieren nicht, wenn Musliminnen erklären, dass sie sich freiwillig und selbstbestimmt zum Tragen des Kopftuchs entschieden hätten, ja mehr noch, dass das Kopftuch für sie ein Symbol für Feminismus und Antirassismus sei. Der prinzipielle Grundsatz, dass Frauen ohne Fremdbestimmung für sich und ihren Körper die beste Entscheidung autonom treffen dürfen, gilt für Musliminnen plötzlich nicht mehr – patriarchale Misogynie in feministischem Gewand!

Es ist kein Geheimnis, dass in gewissen Teilen der muslimischen Gesellschaft durchaus Zwang herrscht – und auch, dass es Frauen gibt, die das Kopftuch nicht aus eigenem Antrieb tragen. Aber Zwang ist eben nicht der einzige Grund, ein Kopftuch zu tragen. Und ganz sicher der falscheste, wenn er als religiöses Motiv verbrämt wird. »Es gibt keinen Zwang im Glauben«, lautet Sure 2 Vers 256, was bedeutet, dass man einer Person etwas nahelegen kann, aber keine Überzeugung erzwingen kann. Anders formuliert: Das Kopftuch gehört zur Kleidung einer islamischen Frau, aber sie trägt es aus Überzeugung und Spiritualität.

Meine persönliche Entscheidung für das Kopftuch fiel freiwillig und bewusst reflektiert. Zwar wuchs ich als Kind gläubiger Eltern auf, aber in meiner demokratisch gesinnten Familie war von Zwang zum Kopftuch nie die Rede. Als ich mich für das Kopftuch entschied, war mir klar, dass dies mein ganzes Leben beeinflussen würde. Mein fester Glaube überwog die Sorgen über spätere Benachteiligung an der Uni oder auf dem Arbeitsmarkt. Als Lehrerin darf ich heute trotz abgeschlossenem Studium in Berlin nicht arbeiten, es sei denn ich verzichtete auf mein sichtbares Glaubensbekenntnis. Es fällt mir schwer zu verstehen, warum ich mich – als Bürgerin eines demokratischen Landes mit grundgesetzlich verankerter Religionsfreiheit – für meinen Glauben rechtfertigen muss. Es tut mir weh, wenn ich entindividualisiert und in negativ etikettierte Schubladen gesteckt werde. Am bittersten ist es, wenn selbsternannte Feministinnen mich in verbal übergriffiger und absurder Weise als fremdbestimmtes Opfer betrachten und abwerten.

Dabei ist doch längst Gewissheit, dass die Benachteiligung von Frauen kein islamisches Problem ist. Artikel 2 des Grundgesetztes besagt, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und der Staat dazu verpflichtet ist, diese zu fördern sowie bestehende Benachteiligungen zu beseitigen. Wir leben im 21. Jahrhundert, feiern 70 Jahre Grundgesetz und trotzdem gibt es in Deutschland immer noch keine Gerechtigkeit zwischen Frau und Mann. Frauen bekommen für die gleiche Arbeit weniger Lohn, sind in Politik und Führungspositionen unterrepräsentiert und aufgrund fehlender gesetzlicher Bestimmungen noch immer verbalen und sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Das betrifft Frauen mit oder ohne Kopftuch.

Und ich wünsche mir, dass muslimische Männer uns Frauen im Kampf für die Umsetzung gleicher Frauenrechte unterstützen – weil es im Koran steht, weil es im Grundgesetz steht und weil sie es in ihrem Herzen genauso fühlen, wie sie es in ihren Köpfen denken. Wenn der Staat etwas tut, wird sich die Gesellschaft ändern. Wenn sich in den Köpfen der Menschen etwas tut, wird sich etwas in den Gesetzen und Strukturen ändern. Gott stehe uns bei.

Literatur

  • Er, Samet, »Islamisch-theologischer Impuls zum ›islamischer Feminismus‹«, Vortrag, Dialogakademie 2018.
  • Karakoyun, Ercan, Die Gülen Bewegung. Was sie ist, was sie will, Freiburg 2018.
  • Schrupp, Antje, »Was ist Gender? Theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff und verschiedene Strömungen«, Vortrag, Dialogakademie 2018.

Onlinequellen

Informationen

Titel:
Geschlechtergerechtigkeit in Gesellschaft und Islam

Herausgegeben von:
Stiftung Dialog und Bildung
Berlin, Deutschland

Reihe:
Materialien zu Dialog und Bildung
DuB 7 | 03/2021